Watt der Mensch braucht, datt musser haben!

Ein nicht geringer Teil des Lebens im Ruhrgebiet spielt sich in Stammkneipen ab. Für mich war das Thema Stammkneipe allerdings erledigt, als Siggi dichtmachte. Offiziell hieß die Kneipe »Zum Sportfreund«, aber eigentlich sagte man nur: Wir gehen zu Siggi.

Der Sportfreund (übrigens: ohne s hinter dem t!) lag direkt gegenüber unserer Schule, weshalb manche ihn auch »Raum 331« nannten, da nach der Fertigstellung des Neubaus die Zählung bei 330 aufhörte. Das Publikum bestand aus »normalen« Stammkneipengästen, zu denen Anwohner und langjährige Bekannte der Wirtsleute zählten, Schülern, Mitgliedern der Jugendgruppen der nahegelegenen Propsteikirche und Basketballern des VfL Bochum, deren Pokale auf dem Regalbrett über dem Stammtisch aufgereiht waren. Das ergab eine bunte Mischung, die es so nur in wenigen der klassischen Eckkneipen gab und gibt.

Die Inneneinrichtung hatte sich seit 1947 nicht verändert. Einmal im Jahr wurde gestrichen und Anfang der Siebziger ein Flipper angeschafft. Trat man durch die Tür, hinter der im Winter ein schwerer, dunkelroter Filzvorhang mit Lederbesatz am unteren Ende den Wind einfing, hatte man linker Hand gleich den Gang zum Klo, dann den Flipper, den Eingang zum Hinterzimmer und schließlich den kurzen Tresen mit Handlauf, Fußstütze und vier einfachen Holzhockern. Der Tresen endete in einer Glasvitrine, oben drauf ein Spendenschiff der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger.

In der Vitrine wurden ab morgens die von Frau Wirtin handgemachten Frikadellen auf einem weißen Teller gestapelt. Daneben ein paar der unvermeidlichen Mettbrötchen, die aber nicht lange dort standen, sondern meistens frisch gemacht wurden. Eine Riesenbockwurst mit Kartoffelsalat rundete das Speisenangebot ab. Die Riesenbockwurst trug ihren Namen zu Recht, wurde aber kneipenintern nur »Jungferntraum« genannt. Was selbstredend zu einigen unanständigen Spaßen anregte. Dabei taten sich beileibe nicht nur spätpubertäre Rohlinge hervor. Die leicht angetrunkene Frau eines Basketballtrainers kommentierte den Eumel dereinst mit den Worten: »Davon träumen nich nur Jungfern, datt kann ich euch flüstern.« Was ihrem Mann aus diversen Gründen ein bisschen peinlich war.

Von Hause aus schon nicht zur Edelküche erzogen, war ich jedenfalls durch Frau Wirtins Frikadellen, Bockwürste und Mettbrötchen endgültig für die Haute Cuisine verloren.

An der Stirnseite war gleich neben der Vitrine ein Spielautomat angebracht, weiter rechts stand der große Stammtisch mit Eckbank, darüber, dort, wo sich in Bayern der »Herrgottswinkel« befindet, ein Fernseher, auf dem samstags die Sportschau lief.

An der Fensterseite vier einfache, quadratische Tische mit karierten Decken, daran jeweils vier einfache Holzstühle. Stilistische Zurückhaltung war hier nicht Programm, sondern selbstverständlich.

Auch das Hinterzimmer war nicht groß, bot aber, wenn man sich quetschte, bestimmt fünfzig Leuten Platz. Der Sportfreund war eine Kneipe der kurzen Wege.

Die Toiletten verzichteten auf Schnickschnack. Der Boden war rot-grau gekachelt, bei den Herren gab es zwei Urinale und eine Kabine. Die Damentoilette habe ich nie von innen gesehen. So was machte man nicht bei Siggi.

Unvergessen der Kondomautomat im Herrenklo, ein graues Teil aus den Fünfzigern, auf dem bis zuletzt der schöne Aufkleber prangte: »Neu in diesem Automaten! Amor Filigran! Mit zarten Perlnoppen!«

(Wem das bekannt vorkommt: Das habe ich schon mal verwendet, in der Geschichte »Siebzehn für immer, achtzehn bis ich sterbe«, aber es gehört hier einfach noch mal hin.)

Eine elektronische Kasse suchte man bis zuletzt vergeblich. Die verzehrten Getränke wurden mit einem dicken Bleistift in den Bierdeckel eingekerbt, ein Strich für ein kleines Pils, ein Kreuz für ein großes - immer noch die ehrlichste Art der Rechnung. Wie entwürdigend sind doch in modernen Kneipen diese Momente, wo die Servicekraft sich an den Tisch setzt und in stundenlanger Kleinarbeit aufzudröseln versucht, wer was verzehrt hat. In dieser Hinsicht ist analog nicht altmodisch, sondern vernünftig.

Ich kann mich nicht mehr genau an meinen ersten Besuch dort erinnern, aber ich fürchte, es war vormittags. Der Sportfreund öffnete damals bereits um acht Uhr, um jenen eine Heimstatt zu bieten, die am Tag zuvor den Vertretungsplan nicht richtig gelesen hatten oder Latein oder Mathe an diesem Morgen einfach nicht gebrauchen konnten. Auch Insasse sen der Berufsschule (neben unserem Gymnasium) konnte man hier um diese Zeit schon antreffen.

Hinter dem Tresen stand Siggi, ein großer Mann mit tadellosen Manieren. Plumpe Vertraulichkeit war seine Sache nicht. Es dauerte Monate, bis er mir das Du anbot, welches ich mir wahrscheinlich dadurch verdient hatte, dass ich auch an den Abenden auftauchte und mich nicht drei Stunden an einer Cola festhielt.

Anni, Frau Wirtin, würde ich heute noch siezen, wenn ich sie auf der Straße träfe. Als Jungspund Frau Wirtin duzen - auch das machte man nicht bei Siggi. Frühmorgens stand sie in der engen Küche und briet in der gusseisernen Pfanne die Frikadellen, immer im weißen Haushaltskittel und mit perfekt »gemachten« Haaren, stets gepflegt, aber nie übertrieben herausgeputzt. Überhaupt umgab das Wirtsehepaar eine Aura natürlicher Würde.

Anfang der Sechziger hatten Siggi und Anni die Kneipe übernommen, und Generationen von Schülern sind hier abgestürzt. Natürlich ist es schockierend, sich vorzustellen, wie sechzehn- oder siebzehnjährige Jungspunde sich schon um kurz nach acht oder in der großen Pause um halb zehn einen halben Liter Pils einverleiben, aber wie sagte Siggi gern: »Watt der Mensch braucht, datt musser haben!« Er stellte die Humpen vor uns hin und sagte: »Ja, schönschön!«, was sich anhörte wie ein völlig verdientes Selbstlob für das perfekt gezapfte kühle Blonde.

Damals in der guten, alten Zeit (Mitte der Achtziger) bedeutete nicht jedes Glas Bier gleich den Absturz in die Drogenkarriere. Einmal saß ich zusammen mit Mücke nach einem Liter Bier auf praktisch nüchternen Magen im Französischunterricht bei Frau M., und wie es so ist nach einem Liter, irgendwann will der auch wieder raus. Ich glaubte zuerst, bis zur nächsten Pause durchhalten zu können, aber dann dachte ich, das Zeug läuft mir gleich aus den Ohren heraus. Ich wollte gerade aufstehen, als Mücke sich erhob und erstaunlich fehlerfrei fragte, ob er mal zur Toilette dürfe, was ihm selbstredend gewährt wurde. Ich sah den endlosen Gang zum nächsten Klo vor mir und malte mir aus, wie lange Mücke für Hin- und Rückweg sowie für das Ablaufenlassen brauchen würde. Ich spürte Panik in mir aufsteigen. Zeit ist nicht relativ. Die folgenden Minuten waren absolut. Und zwar absolut zu lang. Ich versuchte, an etwas anderes zu denken, sah aber nur Mücke vor mir, wie er mit einem wohligen Aufstöhnen seinen Strahl in die Keramik abschoss. Plötzlich meinte ich den Wasserhahn des Waschbeckens in der Ecke tropfen zu hören. Auch draußen auf dem Schulhof rieselte irgendwas. Ich hörte das Blut in meinen Adern rauschen. Alles fließt, dachte ich, nur ich nicht.

Nach einer nicht nur gefühlten, sondern tief empfundenen Unendlichkeit kam Mücke zurück, und noch bevor sein Hintern wieder die Sitzfläche seines Stuhls berührte, war ich schon auf den Beinen und trippelte in kurzen Schritten auf die Tür zu, den Blick fest auf die Klinke gerichtet, die vor meinen Augen immer wieder verschwamm. Endlich legte ich meine kaltschweißige Hand auf das kühle Metall, als mich die Stimme von Frau M. stoppte. Was will die Olle, dachte ich, ich habe keine Zeit!

»Wo willst du hin?«

Was für eine bescheuerte Frage, dachte ich noch, schoss ein »Na pinkeln!« in Richtung von Frau M., verließ das Klassenzimmer und wankte unter Schmerzen den Flur hinunter.

Auf dem Rückweg musste ich zugeben, dass ich kein gutes Bild abgegeben hatte. Ohne ein Wort war ich aufgestanden und hatte mich auf diesen endlosen Weg zur Tür gemacht. Das musste auch eine erfahrene Lehrkraft skeptisch machen.

Als ich, deutlich erleichtert, wieder neben Mücke saß, gab Frau M. der ganzen Klasse eine Aufgabe, die in Stillarbeit zu erledigen war, kam zu uns herüber und sagte: »Wart ihr bei Sigg- äh ... habt ihr Alkohol getrunken?« Mücke war wieder obenauf und konterte: »Nee, nur Bier!«

Nach der Stunde setzte es ein paar mahnende Worte, aber damit hatte es sich auch. Heute würde man uns wahrscheinlich gleich ins Heim stecken. Wenn meine eigenen Kinder so was machten, würde ich sie im Keller einsperren.

Morgens waren Schüler und Berufsschüler bei Siggi unter sich, abends war es bunt gemischt. Der war Der Blaue Klaus, der immer im Anzug neben der Vitrine saß und dessen Lieblingswort »notabene« war. Da war Dieter, der hochgewachsene Krankenpfleger. Da war Christian S., nur einige Jahre älter als ich, aber mit einer Vorliebe für Hans Albers. Und da war Der Kreismeister, der eigentlich Wolfgang hieß und einen Laden betrieb, in dem man Pokale kaufen und Gravuren anfertigen lassen konnte. Seinen Beinamen hatte er sich verdient, weil er stets den Ehrgeiz hatte, mit den Strichen einmal rund um den Bierdeckel herumzukommen. Allerdings soff er sich nicht allein einmal herum, sondern spendierte die eine oder andere Runde und verlor beim Würfeln. Manchmal sogar absichtlich, hatte man den Eindruck, um seinem Spitznamen gerecht zu werden.

Wenn samstags die Sportschau lief, tat sich allerdings eine Kluft zwischen der Restkneipe und dem Kreismeister auf, war dieser doch ein glühender Anhänger der Borussia aus Mönchengladbach. Doch auch für die Spieler des VfL Bochum hatte er schon mal ein gutes Wort übrig. Nach einer besonders eindrucksvollen Parade des Bochumer Torhüters Ralf »Katze« Zumdick rief der Kreismeister Richtung Fernseher: »Ist die Katze gesund, freut sich der Mensch!«

Das Würfeln: Wenn nicht Skat oder Doppelkopf gespielt wurde, wurde geschockt, vor allem am Tresen, drei Würfel im Lederbecher, drei Würfe. Mit neunundzwanzig Deckeln, inklusive reizen, also Contra (Deckelzahl verdoppelt), Re (verdreifacht) und Bock (vervierfacht). Verlor man also bei Bock gegen eine Schwule Jule (Eins-Zwo-Vier, brachte einem ohne alles sieben Deckel), konnte man auf einen Sitz achtundzwanzig Deckel vor sich liegen haben. Höher war nur Schock Aus (drei Einsen), bei dem man sich gleich alle Deckel greifen konnte, von den Mitspielern mit einem lauten »Schock aus! Schock aus! Schock aus, aus, aus!« kommentiert. Das Spiel wurde in zwei Hälften gespielt. Hatten beide unterschiedliche Verlierer, kam es zum Stechen. Der endgültig Unterlegene hatte eine Runde zu geben.

Manchmal ging das sehr schnell, und man kam mit dem Saufen nicht nach. Dann stand schon mal Frau Wirtin daneben und sagte: »Watt soll datt denn werden? Biersuppe?«

Da war es dann meistens schon ziemlich spät, sodass ihr All-Time-Klassiker nicht lange auf sich warten ließ. Ging es auf ein Uhr zu und es krallten sich noch ein paar Unentwegte am Tresen fest, hieß es: »Habt ihr eigentlich keine Betten zu Hause?«

In seinen langen Jahren als Wirt hat Siggi eine Menge mitgemacht, deshalb brachte ihn so schnell nichts aus der Ruhe. Einmal hatte Mücke den Biersuppen-Vorwurf nicht auf sich sitzen lassen wollen und die abgestandenen Reste aus drei Gläsern sehr fix in sich versenkt, damit aber seinen Magen auf die Palme gebracht. Plötzlich wurde er kalkweiß, man konnte förmlich von außen sehen, dass sich Speichel in seinem Mund sammelte, was ja immer ein schlechtes Zeichen ist. Mücke sprang auf, der Stuhl fiel um. Mücke hastete zum Klo, riss die Tür auf und versuchte, mit geblähten Backen die Kabine zu erreichen, als es plötzlich mit Hochdruck aus ihm herausplatzte und sich über den ganzen Kachelboden verteilte. Der Kreismeister stand am Urinal und kriegte ein bisschen was auf die Hosenaufschläge. Jetzt ist Mücke geliefert, dachte ich, jetzt kriegt er Hausverbot. Siggi aber baute sich im Türrahmen auf, betrachtete die Bescherung und sagte nur: »Da sind ja gar keine Grieben drin!«

Siggi war eine Berühmtheit an der Schule. Da konnte man nicht mithalten. 1985 gab ich anlässlich des 125-jährigen Schuljubiläums in einer Aufführung von George Bernard Shaws »Cäsar und Cleopatra« den Cäsar. Und als ich als solcher in einer Szene gefragt wurde, was ich denn zum bevorstehenden Gelage zu trinken wünschte, erlaubte mir mein Deutschlehrer, der als Regisseur das Sagen hatte, tatsächlich, »ein großes, kühles Pils« zu bestellen, und aus der Kulisse trat kein Geringerer als - Siggi. Die Begeisterung des unvorbereiteten Publikums (immerhin knapp sechshundert Leute) kannte keine Grenzen, und das Stück musste für mehr als fünf Minuten unterbrochen werden. Kaum hatten sich die Leute ein wenig beruhigt, sagte Siggi, mit einem unglaublichen Gespür für Timing: »ja, schönschön!« - und wieder riss es alle von den Sitzen.

Bei der zweiten Aufführung sollte der gerade in der Schule anwesende Herbert Grönemeyer, der 1976 hier Abitur gemacht hatte, das Bier bringen, verzichtete dann aber. Er wusste wohl, dass er Siggi nicht toppen konnte.

Die große Sportfreund-Medaille mit Eichenlaub und Schwertern verdienten wir uns rund ums Abitur. Gegen Mittag waren wir mit Klausuren und/oder Prüfungen durch und spätestens ab dreizehn Uhr war Siggi-Zeit. Bis zu einem gewissen Punkt ist der Verzehr alkoholischer Getränke bei vollem Tageslicht eine schöne Sache, gibt es da doch diese nicht genau in Minuten zu fassende Zeitspanne, in der man alles sehr viel klarer sieht, die Konturen der Dinge geschärft erscheinen und die Nebel der Verwirrung sich vom menschlichen Dasein heben. Diesen Punkt hatten wir nach den Abiprüfungen gegen vierzehn, fünfzehn Uhr erreicht. Die Welt stand uns offen, wir hatten keine Probleme, wir fühlten uns leicht. Machte man dann weiter, konnte die Verwirrung eine besonders verworrene werden.

Wie am Tag nach unserer letzten Prüfung. Wir hatten bei Siggi angefangen, konzentriert und mit dem nötigen Ernst zu trinken, hatten geschockt und geflippert und dann in der Schule ein paar Eintragungen in den unvorsichtigerweise frei zugänglichen Klassenbüchern vorgenommen. Am frühen Abend waren Mücke und ich zu mir nach Hause gegangen, in mein Dachappartement. In jugendlichem Übermut stand uns der Sinn nach noch mehr Alkohol, auch wenn wir kaum noch geradeaus gucken, geschweige denn laufen konnten.

Ich klingelte bei meinen Eltern und schilderte meinem Vater die Situation, für die er erstaunliches Verständnis hatte. Der erste Abiturient in der Familie. Da konnte man schon mal einen drauf machen. Außerdem war ich fast zwanzig, da musste ich wissen, was ich tat.

Jedenfalls drückte mein Vater mir eine bauchige Flasche in die Hand, deren Etikett ich schon nicht mehr entziffern konnte. Ich stieg nach oben unters Dach, wo Mücke schon ungeduldig auf den Nachschub wartete.

»Ey kumma«, lallte ich, »Vattern hat mir ne Pulle Schnaps mitgegeben.«

»Guter Mann!«, meinte Mücke.

Ich holte zwei Pinnchen aus dem Schrank und dann gaben wir uns richtig die Kante - wurden aber nicht mehr besoffener. Aber das war ja auch irgendwie klar, wir hatten jetzt Abitur und waren nicht nur erwachsen, sondern richtig harte Kerle, nicht mal Schnaps konnte uns noch was anhaben. Später am Abend gingen wir noch mal zu Siggi, und da bricht dann die Erinnerung irgendwann ab.

Als ich am nächsten Mittag aufwachte, fand ich auf dem Tisch neben meinem Bett eine leere Flasche Mateus Rosé. Wir hatten uns mit Friseusenwein aus Schnapspinnchen abgeschossen!

Nach dem Abitur ging Mücke nach Berlin, ich aber hielt dem Sportfreund die Treue und erlebte bisweilen Momente tiefer Kontemplation. Zum Beispiel, wenn man unter der Woche nach Mitternacht in kleiner Besetzung am Tresen stand, das Licht in der restlichen Kneipe schon gelöscht war und nur die Fiege-Werbung über unseren Köpfen den Tresen erleuchtete. Nicht selten stand ich dort mit dem Blues-Schlagzeuger und Cineasten Ludger S., der früher den Filmclub an unserer Schule geleitet hatte und dann Geschäftsführer des Programmkinos »Metropolis« im Hauptbahnhof geworden war, wo er immer erst sehr spät Feierabend hatte. In solchen Momenten konnte es geschehen, dass Siggi, der nicht dafür bekannt war, reihenweise Freibier oder Schnäpse springen zu lassen, vor jeden von uns einen Asbach hinstellte. Dann hoben wir die Pinnchen andächtig zum Mund, lauschten eine Sekunde dem spärlichen Nachtverkehr auf dem Ostring und legten den Kopf in den Nacken. Ludger und ich gaben Geräusche des Wohlbefindens von uns, während der Brand sich die Speiseröhre hinunterarbeitete. Siggi betrachtete sein leeres Glas und sprach mit unbewegter Miene:

»Und verschwand in der Wand!« Da war die Welt aber mal so richtig in Ordnung.

Anfang der Neunziger haben Anni und Siggi sich zur Ruhe gesetzt. Der letzte Abend war aber noch mal ein Ausrufezeichen hinter einer bemerkenswerten Geschichte. Selbstredend platzte der Laden aus allen Nähten, sogar aus München und Berlin waren Menschen angereist. Frau Wirtin hielt sich tapfer, aber Siggi saß die meiste Zeit im Hinterzimmer, nahm Geschenke entgegen und kämpfte mit den Tränen.

Um halb zehn war das Bier alle. Klar, wir waren zum Restesaufen gekommen, aber halb zehn war doch noch keine Zeit! Thorsten, dessen Eltern ebenfalls eine Kneipe hatten, ging mit dem Hut rum, alle gaben reichlich, Thorsten rief den Großhändler an, und der lieferte kurzfristig noch einen Hektoliter. Das überzählige Geld wurde in das Spendenschiff der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger gestopft.

Am Ende bemühte man sich um Andenken. Christian S., der Albers-Fan, soll sich den alten Tresen in den Keller gestellt haben. Auch der Stammtisch hat, vielleicht in irgendeiner Schrebergartenlaube, eine neue Heimat gefunden. Ich weiß nicht, wer sich den Flipper und den Spielautomaten unter den Nagel gerissen hat, aber ich frage mich, wieso ich mir nicht wenigstens den Kondomautomaten gesichert habe. Das Einzige, was sich heute in meinem Besitz befindet, ist ein Jägermeister-Flaschen-Aufsatz.

Am Ende waren wir alle so schön blau, dass es zum Heulen war. Und das taten wir dann auch. Siggi drückte mir fest die Hand. Wortlos angesichts der Größe des Augenblicks. Frau Wirtin sprach ein letztes Mal: »Habt ihr eigentlich keine Betten zu Hause?« Dann stand ich in dem schweren, dunkelroten Filzvorhang und warf einen letzten Blick zurück. Der Flipper blinkte, der Automat spielte eine Melodie, die Basketballpokale grüßten. Nur die Vitrine war leer.

Und die leere Vitrine verfolgt mich. Manchmal, wenn wir bei uns im Wohnzimmer sitzen und Doppelkopf spielen, will ich am liebsten in die Küche rufen: »Siggi, mannoma vier Frikas, vier Mett, einen Jungferntraum und ne Runde Asbach!«

Manche Dinge ändern sich eben nie: Watt der Mensch braucht, datt musser haben.

 

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